An image from ca. 1890 showing St. Imier

Anarchy2023  -  Das “Internationale Antiautoritäre Treffen” plant den Superspreader26 min read

[For an English translation: Anarchy2023 – The “International Anti-Authoritarian Meeting” is planning a COVID-superspreader
Here’s the Mastodon thread with some further discussion: toot!]

tl;dr: Die Pandemie hat auch die radikale Linke gespalten. Verschwörungsmystische Narrative sind bis tief in unsere Szene vorgedrungen. Wie sich das auswirken kann, zeigt sich bei der Organisation von Anarchy 2023. Das geplante Jubiläums-Treffen in St. Imier wird (Stand heute, macht bitte Druck!) ohne jegliche COVID-Schutzmassnahmen organisiert und geplant. Mindestens einer der Hauptorganisatoren hat sich bei den Covid-19-Massnahmengegner-Demos engagiert.


“It is the conscience - be it only at the stage of an instinct - of human solidarity. It is the unconscious recognition of the force that is borrowed by each man from the practice of mutual aid; of the close dependency of every one’s happiness upon the happiness of all; and of the sense of justice, or equity, which brings the individual to consider the rights of every other individual as equal to her own.” ~ Peter Kropotkin, 1902


Drawing of three monkeys sitting on a virus, the first monkey has a mask over his eyes, his speech bubble reads: just a flu. the second monkey has a mask under his chin, speech bubble: not airborne, the third monkey has a mask over his ear, speech bubble: now just endemic
The evolution of COVID-denialism

Altlasten der links-internen Polarisierung durch die Pandemie dürften uns noch lange beschäftigen

Während die Pandemie in vielen Ländern der Welt fast ungebremst weitergeht und weiterhin beängstigende Zahlen von Todesfällen und teilweise langjährigen Behinderungen nach sich zieht (zum Beispiel ich “feiere” in diesen Tagen mein dreijähriges Jubiläum mit , immer noch ohne offizielle Diagnose, but come on), scheint die Welt sich kollektiv vorzugaukeln, die Pandemie sei inzwischen vorbei. Allen sollte klar sein, worum es dabei geht - der Konsum muss wieder angekurbelt werden, denn die Wirtschaft, das Bruttosozialprodukt or whatever the fuck haben durch die Pandemie gelitten. Auch im Spätstadium des Kapitalismus, trotz Klimakrise und während einer globalen Pandemie, darf der Wachstumsimperativ nicht gestoppt werden, schon gar nicht durch ein kleines, dreistes Virus.

Immer weniger Leute schauen überhaupt noch kritisch auf den Pandemieverlauf, während gleichzeitig immer weniger Daten erfasst werden, so dass wir uns zunehmend in einen Blindflug begeben. Positionen, wie sie lange nur von der Querfront der Coronaverharmloser- und Massnahmengegnerschaft (kurz Schwurbler) oder durch die unsägliche Greater Barrington Declaration vertreten wurden, werden heute bis tief in die sogenannte Mitte der Gesellschaft und sogar von gewissen Regierungsverantwortlichen vertreten. Durchseuchung? Läuft. Obschon inzwischen bekannt ist, dass eine “Herdenimmunität” bei diesem Virus eine Illusion bleiben dürfte und Mehrfachinfektionen die Gefahr von Komplikationen vergrössern.

Viele Themen der offiziellen Pandemiebewältigung würden einen kritischen, linksradikalen Blick verdienen. Die globale Impfungerechtigkeit, das Patentwesen, die Impfzertifikate, die haarsträubenden Profite der Pharma, die allgemeine Umverteilung nach oben, die es den Superreichen auch während einer verdammten Pandemie ermöglicht hat noch reicher zu werden, Sexismus in der Carearbeit, sowie arbeitsrechtliche Themen in Bezug auf die sogenannten systemrelevanten, aus Sicht der Virenlast hochriskanten Berufe, die jedoch weiterhin eine schlechte Bezahlung erhalten oder wie die Krankheit vor allem bereits unterprivilegierte Klassen schwer betrifft.
 
Doch leider kam aus unserem Lager in diesen letzten drei Jahren recht wenig. Es wird für mich persönlich eine der grossen Ernüchterungen dieser Zeit bleiben, wie es die radikale Linke verpasst hat, sich in dieser Pandemie auf konstruktive Weise einzubringen, mit robusten Mutual Aid Projekten beispielsweise, mit einer klaren Positionierung gegen grassierenden Ableismus, Eugenik, wie auch, etwas positiver formuliert, mit einem Kampf für eine intersektionale Solidarität mit behinderten und chronisch kranken Mitmenschen.


Some call that depression, set in motion by trauma and grief. And no doubt there’s much that’s accurate in that. Yet I call it trying to live with “the gap between ‘what is’ and ‘what could be'” - a gap that these pandemic years has pried so far apart, it’s now (in winter three) nearly unbridgeable. And without a bridge, any sense of being able to wander forward toward horizons of possibilities gets blocked. ~ Cindy Barukh Milstein


Es war nicht alles schlecht. Vor allem in den sogenannten USA gab es auch begeisternde Ansätze. In den Texten und Podcasts von Cindy Milstein, Dean Spade, Beatrice Adler-Bolton, Artie Vierkant, Kelly Hayes, Leah Lakshmi Piepzna-Samarasinha, Margaret Killjoy wurden präzise linksradikale Kontextualisierungen und Positionierungen herausgearbeitet.

Doch in Europa haben sich gewisse Teile der antiautoritären Linken bis sogar weit in das verschwörungsmystische Lager verrannt, Agamben, Wu Ming [hier weniger deutlich aber immer noch enttäuschend], das erschreckende Manifeste conspirationiste aus dem Umfeld des Comitee invisible. Doch wir müssen gar nicht so weit suchen. Auch hier in Bern entstand eine Gruppe von sog. “Freien Linken”, die sich aktiv an den Schwurblerdemos beteiligt und so erst ermöglicht hat, dass dort eine eigentliche Querfront entstehen konnte.

Andere Teile der radikalen Linken haben sich am Anfang der Pandemie kurzzeitig für die Thematik Disability Justice interessiert, ohne sich aber vertieft mit den darunter liegenden ableistischen oder sogar eugenischen Setzungen auseinanderzusetzen, bloss um das Thema irgendwann wieder fallen zu lassen. Zu all diesen Fragen und Versäumnissen bräuchte es dringend kritische Auseinandersetzungen, wie sie viel zu selten in diesem Artikel von Nate Holdren zu lesen sind.


Knowing that the return to normal means even more dying and life-altering suffering is terrible. Knowing that many people seem not to realize this, that people in officially respected positions seem to find this acceptable, that fellow travelers on the left don’t treat this as a priority, that all feels isolating to a degree I find hard to overstate. What’s happening, I think, is that there’s no consensus on the reality we’re living in: ideologically, the pandemic continues for some of us and is over for others, while, of course, it hasn’t *actually* ended; it feels like living in a different world from other people, but still interacting. In some cases, this means old relationships feel different, and not for the better. ~ Nate Holdren


Was oft vergessen geht, für viele behinderte, chronisch kranke, immunkomprimierte, neurodivergente Menschen, oder kurz, für Menschen, die bereits vor der Pandemie teilweise sozial isoliert leben und Menschenansammlungen vermeiden mussten oder wollten, gab es anfangs der Pandemie eine kurze Phase in der wegen dem Virus fast alle in eine vergleichbare Position gedrängt worden waren. Und plötzlich waren Versammlungen per Videostream, Home Office für alle (ausser die plötzlich Applaus verdienenden sog. systemrelevanten Berufe) möglich. Für viele der oben genannten Betroffenen eröffnete dies neue Möglichkeiten der sozialen Einbindung. Das bereitete vielen von uns zwar keine Freude, denn das Leiden durch die Pandemie war zu gross, aber war doch verbunden mit der leisen Hoffnung auf eine anhaltende Sensibilisierung für unsere Situation.

Genau so brutal war es dann aber als all diese Errungenschaften wieder fallengelassen wurden, sobald der Prozess der soziologischen Produktion des Endes der Pandemie einsetzte. Die “vulnerablen” Menschen, wie wir jetzt plötzlich genannt wurden, wurden von der gesellschaftlichen Teilhabe auf gnadenlose Weise wieder abgeschnitten, sobald die Regierungen und ein Grossteil der Medien das Ende der an sich nicht enden-wollenden Pandemie in die Wege leiteten, wodurch Arbeit, kulturelle Veranstaltungen und Konsumhandlungen viel zu rasch wieder nur mit physischer Anwesenheit möglich wurden.

Pile of skulls with a sign sticking out that reads, but the economy
But the fucking economy

Eine der Fragen, die mich in dieser verwirrenden Zeit brennend interessiert hat: Wie wird sich die spezifische links-interne, politische Polarisierung nun auswirken auf den linksradikalen Diskurs, auf unseren Aktivismus und konkret auf die Organisation unserer Veranstaltungen, Arbeitsgruppen und so weiter. Welcher Strang wird sich durchsetzen? Der verschwörerisch freiheitlich-individualistische, über Leichen gehend, oder der inklusive, vorsichtige, der sich weiterhin rücksichtsvoll bemüht nicht dem Ableismus zu verfallen?

Wenn der Staat uns zurück in den Konsum und die Arbeit drängt, und nebenbei unsere mehrfache Infektion mit einem gefährlichen Virus normalisiert wird - was nota bene jedes Mal unsere Chancen zu sterben oder an zu erkranken erhöht (denn dazu gibt es inzwischen genügend Studien) - dann müsste es für uns Anarchist·inn·en eigentlich selbstverständlich sein, dazu Gegensteuer geben oder zumindest die gefährdeten Kamerad·inn·en in unseren eigenen Rängen schützen oder mindestens nicht ausschliessen zu wollen, sie nicht auch noch “unter den Bus zu werfen”, wie es bereits Staat und Medien getan haben.

But hey, that’s just me.

Denn die Realität sieht wohl anders aus, wie ich neulich leider erfahren musste.


//CW Von hier an wird dieser Text anekdotisch

Wie sich die Pandemie auf anarchistische Kreise auswirken kann, musste ich kürzlich erfahren als ich versucht habe mich an der Organisation des sog. “internationalen antiautoritären Treffens” in St. Imier zu beteiligen, geplant ist das Treffen für den Juli 2023. Bekanntlich hatte 1872 in diesem kleinen Städtchen im Berner Jura das legendäre Treffen mit Bakunin und vielen anderen anarchistischen Arbeiter·innen stattgefunden, welches gemeinhin als der Ursprung der anarchistischen Bewegung gilt. 150+1 Jahre später soll nun eine Art Jubiläum gefeiert werden. Ursprünglich für den Sommer 2022 geplant , wurde die Veranstaltung dann aber wegen der Pandemie um ein Jahr verschoben.

Flyer for the anarchist gathering that was planned for the summer of 2022 with red lettering saying "CENSORED".
Flyer 2022

Im Oktober 2022 las ich den “Aufruf zum Mitmachen bei Anarchy 2023” auf Mastodon. Da ich in dieser Zeit auf der Suche nach einer neuen Herausforderung war, verfasste ich sofort begeistert ein Mail, in der ich von an Anfang klar machte, dass ich mich dafür einsetzen möchte, dass diese Veranstaltung eine herausragende Barrierefreiheit erhalten würde, gerade auch in Bezug auf virale Infekte wie COVID. Während dieser Pandemie war ich selber chronisch krank geworden und dadurch in eine Position gedrängt worden, in der ich weiteren Ansteckungen möglichst vermeiden möchte. Dies erklärte ich in meiner Mail vom 7.10.2022 an die offizielle Emailadresse der Organisation info@anarchy2023.org und formulierte darin die folgenden vier Anliegen:

· Bereits bei den Planungssitzungen unbedingt einen virtuellen remote access (Zoom oder ähnlich) ermöglichen.
· Bei möglichst vielen Anlässen während Anarchy 2023 eine Möglichkeit des remote access anbieten (Videokonferenz)
· Immer auch einen Plan B parat haben, falls die Pandemie noch nicht vorbei ist im Sommer 2023, was wir zwar alle hoffen, aber es ist alles andere als sicher (so wie jetzt gewurstelt wird). Es kann nicht mit dem anarchistischen Gedanke vereinbar sein, wenn riskiert wird, dass weitere Leute sich anstecken, an einer behindernden Krankheit wie LongCOVID erkranken und gleichzeitig die sog. Vulnerablen (ein schrecklicher Begriff) von einer Teilnahme ausgeschlossen werden (Inklusion)
· Das Thema Behinderung/Ableismus/Eugenik muss nach dieser Pandemie an der Konferenz prominent vertreten sein

Dann hörte ich erstmal rein gar nix.

Eine Woche später am 14.10. hab ich das Email ein erstes Mal gebumpt. Am 17.10. schickte ich das gleiche Mail von einer anderen Adresse noch einmal, weil ich befürchtete das erste sei in einem Spam-Filter gelandet. Am 28.10. fragte ich ein weiteres Mal nach. Erst auf dieses vierte Mail erhielt ich noch am gleichen Tag eine ziemlich gereizte Antwort, diesmal von der privaten Email von A.S., einem der Veranstalter und meines Wissens Hauptinitiatoren des geplanten Treffens:

Hallo X,
Du musst ein bisschen mehr Geduld haben. Die Orga-Gruppe hat sich noch nicht getroffen seit du dieses Mail geschrieben hast. In der ersten November Hälfte wirst du eine Antwort bekommen.
Cheers, A.

Also habe ich geduldig auf eine Antwort gewartet. Die erste Novemberhälfte verstrich. Ein Monat. Zwei Monate.

Am 9.01.2023 fragte ich nach, ob meine Anliegen inzwischen besprochen worden seien, wieder kam keine Antwort. Am 30.01. und 6.02. fasste ich wieder nach, mit dem gleichen Ergebnis. Erst am 13.02. und erst nachdem ich mich auf Mastodon kritisch geäussert hatte, erhielt ich endlich eine Antwort, in der mir erklärt wurde, das Vertrauen zu mir sei deswegen gebrochen, es wolle niemand mehr mit mir zusammenarbeiten?! Hmm. 

Ich musste acht Mails schreiben und vier Monate auf eine Antwort warten, und dann war plötzlich ich das Problem?

Bei mir waren schon früh einige Alarmglocken losgegangen. Wieso sollte ausgerechnet dieses kritische Anliegen, es geht dabei um COVID-Safety und um den Schutz und die Beteiligung von gefährdeten Kameraden, so lange unbeantwortet bleiben? Ein schrecklicher Verdacht stieg langsam in mir hoch. 

Ich liess mich aber nicht so leicht abwimmeln und insistierte. Ich erklärte die Situation aus meiner Sicht, wie ich vier Monate lang keine Antwort auf diverse Mails erhalten und nie etwas von der Orga-Gruppe gehört hatte. Und dass ich weiterhin daran interessiert sei, für meine Anliegen zu kämpfen. Daraufhin gab es von Seiten der Orga ein paar Zugeständnisse. Schliesslich erhielt ich Zugang zu einer der Arbeitsgruppen.

In der selben Zeit hatte eine gute Freundin von mir sich auch zum Mitmachen gemeldet. Sie erhielt sehr rasch, praktisch noch am gleichen Tag, eine Einladung zu einem “General Meeting” am 5.03.23 in Bern. Für das “Onboarding” der neu Interessierten sei um 13:00 ein Treffen geplant, um 14:00 sei dann das General Meeting. Auf dem entsprechenden Flyer war ersichtlich, dass vorher im gleichen Raum ein Pot Luck stattfinden sollte. Alles soweit, aus Sicht der COVID-Sicherheit, relativ unspezifisch und riskant. Da es auf dem Flyer nicht ersichtlich war, fragte meine Freundin nach, ob es für die Sitzung eine Maskenpflicht geben werde, nein, und später ob es eine Möglichkeit geben werde sich per Videostream einzuschalten, dazu gab es eine ausweichende Antwort.

Ich hingegen war über dieses “General Meeting” nicht informiert worden, hatte dafür weder eine Einladung noch den Flyer erhalten.

Komisch!?

Aus einem Telegram-Chat wurde mir dann von meinem Kollegen die folgende Aussage zur Frage der Hybrid-Treffen zugespielt (Screenshot besteht):

Most don’t like having an online option for security reason and also because hybrid meetings tend to be frustrating for many. From time to time we have a hybrid session and since there is no general agreement it is always re-discussed.

Okay. Videochats sind aus Sicherheitsgründen nicht vertrauenswürdig aber gleichzeitig werden Gruppenchats auf Telegram genutzt, die sich bekanntlich nicht verschlüsseln lassen? Logik?! Aber hybrid meetings sind halt so “frustrierend”. 

FFS, da hilft wirklich nur noch der Sarkasmus.

Eigentlich war ich bereits ziemlich desillusioniert, habe aber trotzdem noch mal ein Mail geschrieben in der ich deutlich machte, dass genau solche organisatorische Treffen ohne jegliche Sicherheitsvorkehrungen es Leuten wie mir verunmöglichen würden mich an der Organisation zu beteiligen und darum ableistisch seien. Hier ein Auschnitt dieser Mail, im Anhang 1 zu lesen im Volltext:

So, i found out that the next general assembly (next Sunday) will happen in a closed room (instead of outdoors), with neither a mask mandate nor is it a hybrid meeting, allowing remote access.
The meeting happens after a pot luck in the same room.
A friend of mine was interested to get involved in organizing, and got sent this information for the general assembly.
I was never sent the information about this meeting. Which is hilarious (of course i would find out), since one of my declared interests (that i had communicated in my email from early October 2022) had always been that all major planning meetings should be covid-safe (either with mask
mandate or allowing remote access).
[…]
Planning meetings, where certain people are excluded is ableist. It really is as simple as that.
Needless to say, both of us cannot attend a general assembly in this form.
So here i go:
Please make this general assembly covid-safe.
Which means, the pot luck has to happen after the meeting (people take off the masks for food and drink) or outdoors.
The meeting is held with a mask mandate.
Even better if it is a hybrid meeting, which allows people
(disabled/immuno-compromised/chronically ill/with partners in such a situation/and/or/still cautious) to attend.

Darauf kam dann ein paar Tage später eine Antwort, hier nur der erste Paragraph davon:

It is true that we are going a path where we generally organize the event in a way that is mandate free. This is mainly a result of having postponed the event to 2023 for the reason of not wanting to subject people to mandates, in regards to travel restrictions that they might have still had in 2022, but also locally during the event. So, the general line of thought regarding accessibility is to look for ways that integrate alternative ways of participating without restricting those that don’t want these limitations.

Endlich Klartext. Und mein wachsender Verdacht hatte sich bestätigt, COVID-Safety darf kein Thema sein beim Internationalen Antiautoritären Treffen.

Bakunin würde sich im Grab umdrehen. Falsch, Bakunin hat sich im Grab umgedreht. Ich war neulich im Bremgartenfriedhof und habe nachgeschaut.

Denn wer jegliche Regeln oder Pflichten verbannen will, hat von Anarchie relativ wenig verstanden. Es geht bei der Anarchie nicht darum keine Regeln zu haben, sondern darum diese basisdemokratisch zu bestimmen, oft per Konsens. So verbieten diverse anarchistische Gruppen Mobiltelefone an ihren Sitzungen, ob aus Gründen der OpSec oder aus Paranoia. Ein solches Verbot ist jedoch kein grundsätzliches Problem, solange es prozesshaft und basisdemokratisch entschieden worden ist.

Und wer Masken als Einschränkung bezeichnet ist entweder eine ignorante oder ein rücksichtslose Nülpe. Denn es sollte inzwischen allen klar geworden sein, dass Masken primär anderen Menschen, denen wir begegnen, vor einem selber schützen. Wir können ja nie wissen, ob wir aktuell das Virus in uns tragen (wir sind weiterhin am ansteckendsten ein paar Tage vor! den Symptomen) oder wie der Gesundheitszustand meines Gegenübers ist, ob er oder sie vielleicht immunkomprimiert ist. 

Auch hier, der Staat und ein Grossteil der Medien haben schlecht informiert. Doch wo bleibt hier der anarchistisch-kritische Blick? Maskenpflicht bei Treffen in Innenräumen sollte für Anarchist·inn·en eigentlich ein No Brainer sein.

Wieso ich als Anarchist mit der Maskenpflicht nie ein Problem hatte? Weil ich bereits im März 2020 nicht auf das staatliche Mandat gewartet, sondern für mich selber entschieden hatte Masken zu tragen. Im Sinne von Fremd- und Selbstschutz machte für mich sowohl ethisch wie politisch Sinn. Als Anarchist·inn·en verfügen wir zum Glück mit der sozialen Verantwortung über ein entsprechendes Werkzeug in unserem Gepäck, welches sich von der neoliberalen Eigenverantwortung deutlich abgrenzen lässt. Eine Maske zu tragen ist während einer Pandemie ein kleiner Akt von gelebter Solidarität und somit auf keine Art und Weise eine Einschränkung.

Mein Verdacht, den ich bereits auf Mastodon zum Ausdruck gebracht hatte, er hatte sich als wahr herausgestellt. In der Gruppe der Orga gab es bereits einen Konsens, dass Anarchy2023 nicht covid-safe organisiert werden sollte. Gleichzeitig hatte ich seit Oktober versucht mich genau zu diesem Thema einzubringen, hatte bereits in meinem ersten Mail versucht anzuregen, dass sowohl die organisatorischen Sitzungen wie das Treffen selber für alle zugänglich gemacht werden sollen. Und für alle heisst eben auch für Leute wie mich, die durch Krankheit oder Behinderung weiterhin in der sozialen Isolation gedrängt werden, und dies gerade in einer Welt, die sich nicht mehr um unsere Gesundheit schert.

Es ist reine Spekulation, sicher sogar fragwürdig, ob ich es als Einzelperson geschafft hätte diese Gruppe für eine covid-safe Veranstaltung zu überzeugen. Doch ich hätte es mit aller Kraft versuchen können, wenn ich nicht vier Monate lang auf die soziale Wartebank gesetzt worden wäre. Es muss also klar benennt werden, dieser Konsens konnte nur durch Ausschluss (von mir und anderen anders-lautenden, kritischen Stimmen) zustande kommen.

Consensus by exclusion of critical voices, der faulste Trick im Buch.

Ein weiteres Mail in dem ich diese Einwände zum Ausdruck gebracht habe, blieb unbeantwortet, zu lesen in Anhang 2.


Vom “COVID1984”-Massnahmengegner zum Initiator und (Mit-)Organisator von Anarchy2023

Wie konnte so etwas geschehen? Dazu kann ich bloss Vermutungen anstellen. 

Die Twitter-Timeline von A.S., ihr erinnert euch, einer der Hauptorganisatoren, er hatte mir die leicht gereizte Mail (weiter oben zitiert) geschickt, lässt jedenfalls tief blicken. Da finden sich nicht nur anerkennende Retweets von Rechtslibertären wie Elon Musk, Kim Dotcom und Glenn Greenwald oder vom Verschwörungstheoretiker und Abtreibungsgegner Robert F. Kenedy Jr., sondern auch ein Lob auf James O’Keefe von Project Veritas, und die Timeline zeigt auch, dass A.S. sich bei der Coronaleugner- und Massnahmengegnerschaft engagiert war. So hat er am 20.10.21 auf Twitter für die Schwurblerdemo “Nein zu den COVID-19 Verschärfungen” am 23.10.21 in Bern aufgerufen. Und gemäss der Formulierung des Tweets vielleicht sogar mitgeholfen die Demo zu organisieren (“Wir haben die Bewilligung!”)? An einer Demo übrigens, an der dann mehrere verschwörungstheoretische und/oder antisemitische Plakate sowie Teilnehmende von der “jungen Tat” bis zu den Freiheitstrychlern gesichtet wurden, während es bei der Reitschule, nur so zur Erinnerung, wegen dieser Schwurblerdemo zu Scharmützeln zwischen der Polizei und der anarchistischen Gegendemo unter dem Titel: “Solidarität mit den Corona-Betroffenen”.

Wieso ich diese Leute weiterhin “Schwurbler” nenne? Der Begriff ist bekanntlich aus der Mode geraten. Gewisse Schwurbler haben u.a. Leuten in der Strasse die Masken vom Gesicht gerissen oder sie sind ohne Masken in Spitäler eingedrungen, an ihren Demos wurden sowohl crude antisemitische Verschwörungsmythen wie Neonazis toleriert. Aber das läuft bei A.S. wohl alles unter “free speech”. Denn eine Abgrenzung zu diesen Aspekten der Coronamassnahmengegnerdemos lese ich in der TL von A.S. nirgends.

Some tweets showing pretty crude politics for an anarchist
Say what?!

Ein “Anarchist” also, der auf der falschen Seite und mit den falschen Leuten (Querfront) gegen Schutzmassnahmen in einer Pandemie gekämpft hat, die als die schlimmste Gesundheitskrise der letzten 100 Jahre gelten muss, unter der primär bereits vorher unterprivilegierte Gruppen gelitten haben?! Ein “Anarchist”, der an der Seite von Leuten kämpft, die Behinderte, chronisch Kranken, Immunkomprimierte und so weiter nicht als schützenswertes Leben ansehen?! Wie kann sich so einer Anarchist nennen? Ist das nicht eher ein Anarchoschwurbler?!

So einer also hat sich nun ein internationales anarchistisches Treffen unter den Nagel gerissen und mindestens eine kritische Stimme, die meine, aussen vor versauern lassen. (Auf Mastodon habe ich noch von anderen gehört, die mit ihren Anliegen auf ähnliche Weise ignoriert worden sind, aber das ist Hörensagen.)

Ein Schuft, wer hier eine Absicht vermutet, und nun denken könnte, hier versuche einer die anarchistische Bewegung in seinem Sinne, und zwar ableistisch, zu prägen.

Das darf so nicht toleriert werden. 


Fazit

Was war mein Motiv diesen Text zu publizieren? Zuerst ging es mir darum mich zu distanzieren, dann auch darum die polarisierten Positionen und Differenzen zu benennen und schliesslich darum andere vor diesem Treffen zu warnen. Na gut, warnen ist ein Witz. Wer wird schon diesen kleinen Blog finden und diesen viel zu langen Blogpost lesen mögen. Sorry about that.

Trotzdem, wir befinden uns als radikale Linke in verwirrenden Zeiten. Alleine im anarchistischen Spektrum gibt es verwirrende Entwicklungen, von den Anarchokapitalisten (ein schlechter Witz) bis offenbar neu auch zu den Anarchoschwurblern (eine beängstigende Verwechslung), von beiden muss ich mich deutlich abgrenzen. Wobei so neu ist das alles gar nicht. Wer die Biografien der alten Anarchist·inn·en liest, sieht dass es bereits um 1900 gewichtige Differenzen zwischen den individualistischen und den kommunalistischen Strängen der Anarchie gab. Zudem haben verschwörungsaffine Gruppen wie We Are Change und Zeitgeist bereits 2011 während der Occupy-Bewegung versucht anarchistische Kreise zu unterwandern.
 
Jedenfalls bin ich der Überzeugung, solche Differenzen müssen herausgearbeitet und benannt werden, damit überhaupt wieder eine Form von Zusammenarbeit möglich wird, wenn vielleicht auch nur in der Distanzierung. Anzeichen für solche grundlegende Differenzen können oft subtil sein, ich habe 5 Monate gebraucht, um sie endlich zu erkennen. Ich will niemanden davon abhalten, doch wer sich an der Organisation von Anarchy2023 beteiligen will, sollte zumindest wissen auf wen/was er oder sie sich einlässt. Ditto für die Teilnehmer·innen am Treffen im Juli. Für mich jedenfalls ist klar geworden, mit Leuten die sich an Demos gegen die Covid19-Massnahmen beteiligt haben, kann ich nicht zusammenarbeiten. Da geht für mich nur noch eine Abgrenzung.

Denn genau so selbstverständlich, wie sich die Anarchie heutzutage gegen Rassismus, Sexismus, Queer- und Transfeindlichkeit abgrenzt, sollte sie sich auch gegen den Ableismus positionieren. Eine Anarchie, die ihre behinderten und chronisch kranken Kameraden nicht schützt, sie gar vor einer Teilhabe ausschliesst, ist nicht meine Anarchie.

Alle hoffen, dass die Pandemie bald vorbei ist. Und momentan sehen die Zahlen im Nationalstaat genannt Schweiz auch ziemlich gut aus. Doch Viren respektieren nun mal keine Grenzen, ein internationales Treffen ist und bleibt ein Risiko. Zudem kann es jederzeit auch hier wieder losgehen, und auf solche Szenarien müssten wir vorbereitet sein. Je mehr Leute oder Gruppen von sich aus vorsichtig bleiben, desto besser die Perspektiven. Für viele von uns bleibt das Risiko schlicht zu gross. Darum musste ich leider diesen Text schreiben, als Warnung, damit die Leute wissen worauf sie sich einlassen.

Noch einmal: Sowohl das Treffen selber wie die Organisation des Treffens werden, Stand heute, nicht covid-safe geplant, was alle Leute ausschliesst, die sich weiterhin vor COVID-19 schützen müssen oder wollen. Das ist per Definition Ableismus. Meldet euch bitte bei info@anarchy.org, falls ihr, wie ich, damit nicht einverstanden seid. Helft bitte mit, dass hier Anarchie nicht pubertär umgedeutet oder verschwurbelt wird. Oder, falls alles nichts bringt, warnt eure internationalen Kontakte davor, falls sie an diesem Treffen teilnehmen wollen.

Es stimmt. Ich träume von einem anarchistischen Treffen für alle. Doch Anarchoschwurbler wollen halt ein Treffen ohne Leute wie mich, wegen denen sie ihre “Freiheit” einschränken müssten. Und dieses (Toleranz)Paradox lässt sich leider nicht lösen.

Anarchy2023 - Schwurbelfrei!


P.S. 1: Lange habe ich mir auch überlegt, wie ich A.S. hier nennen soll. Ich habe mich entschieden seinen Namen zu anonymisieren. Obschon es ein leichtes sein wird ihn zu finden, denn er tritt überall mit seinem richtigen Namen auf, liess sich bereits in den Medien als Anarchist porträtieren und hat neulich einen viel beachteten Gerichtsfall angestrebt. Zur Frage der Vertraulichkeit: All seine Tweets sind öffentlich zugänglich, die zitierten Mailstellen wurden ohne Vertraulichkeitshinweis verschickt. 

Ich lass euch raten, wofür A.S. steht.

Zur Frage der Vertraulichkeit: All seine Tweets sind öffentlich zugänglich, die zitierten Mailstellen wurden ohne Vertraulichkeitshinweis verschickt. Die Email-adresse wird auf der Website kommuniziert.

P.S. 2: Ich versuche den Begriff Anarchismus zu vermeiden, denn wenn etwas zum -ismus wird, dann wird es meist zum Problem. Meist benutzte ich Anarchie.

P.S. 3: Schaut euch gerne auch diese Veranstaltung an, die am Treffen geplant wird. Das ist allerschlimmstes verschwörungsfabulierendes Geschwurbel.



Anhang 1: Meine Mail vom 26.02.2023:

Hey there

So, i found out that the next general assembly (next Sunday) will happen in a closed room (instead of outdoors), with neither a mask mandate nor is it a hybrid meeting, allowing remote access.

The meeting happens after a pot luck in the same room.

A friend of mine was interested to get involved in organising, and got sent this information for the general assembly.
I was never sent the information about this meeting. Which is hilarious (of course i would find out), since one of my declared interests (that i had communicated in my email from early October 2022) had always been that all major planning meetings should be covid-safe (either with mask mandate or allowing remote access).

Quote my email from October 7 2022: “Bereits bei den Planungsitzungen unbedingt einen virtuellen remote access (Zoom oder ähnlich) ermöglichen.”

I am being sarcastic of course.

This is not at all hilarious, in fact i am extremely disappointed, angry even. And it breaks my heart. I cried when my friend told me. I still do.

Especially after all the information that you sent me, how much was being done to make the various events inclusive, to be non-ableist.

Especially after telling me, trust was broken because i raised these topics on Mastodon.

Planning meetings, where certain people are excluded is ableist. It really is as simple as that.

Needless to say, both of us cannot attend a general assembly in this form.

So here i go:
Please make this general assembly covid-safe.
Which means, the pot luck has to happen after the meeting (people take off the masks for food and drink) or outdoors.
The meeting is held with a mask mandate.
Even better if it is a hybrid meeting, which allows people (disabled/immuno-compromised/chronically ill/with partners in such a situation/and/or/still cautious) to attend.

For further context people can listen to the following podcasts:

Disability Justice Organizers Dream Big and Resist a Culture of Disposability 

In solidarity, X


Anhang 2: Mail vom 01.03.2023:

Hi A.

Thank you for the real talk.

I see several fundamental problems with your argument though.

1. Not mandates are what is problematic, but who imposes or decides them. Were they imposed by the state, employer or another top-down entity? Or were they decided in a consensus process, bottom up? I know of several anarchist and radical leftist organizations, who have a mask mandate in their action or group consensus, in so-called Europe or the
US. Ende Gelände had it until recently even for their outdoor demonstrations. Many anarchist groups impose a no-phone rule for meetings for opsec reasons. Why is this a valid mandate but masks should somehow be a problem? Masks are a minor inconvenience that allows the space to be accessible to more people.

Anarchy is not having no rules, it is deciding them horizontally. You even had a similar sentence on the website until recently, but i don’t see it now.

2. Calling masks a limitation, however, is the problem. In my understanding of mutual aid and communal care, which i hope you agree are core beliefs for anarchists, it is never ever a limitation if i can do something to protect the “vulnerable” people around me. In fact any other attitude is ableist and excludes people from participation. So here is my suggestion, please propose this in my name at the next general meeting not general assembly (it even says general meeting on the flyer):

It was clear to me, that at this stage of the pandemic, with the state! imposing a normalization of continuous infections, deaths and disability, it would have been a huge task to make the entire RIA Anarchy2023 a covid-safe, mask-wearing etc event. My idea was to give every organizer the option to make their event, discussion, panel or whatever covid-safe (with masks and/or remote access via video streaming). Then these events who chose this option could have been bundled in one or two locations.

I believe, it would have been easy to find consensus to make certain locations of the gathering covid-safe and therefore accessible to the so-called “vulnerable”, the immunocompromised, the chroncially ill, people like me with LongCOVID, or the disabled. We also do not know how the infection numbers will be in summer here. As one anarchist suffering from LongCOVID and therefore experiencing how debilitating this disease really is, i simply have to try to protect my comrades from potentially having to go through the same ordeal. The state has given up on us, thrown us under the bus, it is up to us now to protect each other.

Everything else is ableism (and in that even following state rules!) and has nothing to do in an anarchist organisation.

Cheerz, X

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